Manche Orte erzählen ihre Geschichten nicht in lauten Worten, sondern in leisen, beharrlichen Flüstern. Sie brauchen keine spektakulären Inszenierungen, um beeindruckend zu sein – ihre Mauern haben genug gesehen, um für sich selbst zu sprechen. St. Urban ist so ein Ort.
An einem kühlen Donnerstag Nachmittag machte ich mich auf meinem Lastenfahrrad mit Benny auf den Weg dorthin. Schon aus der Ferne wirkte das ehemalige Zisterzienserkloster wie eine Insel der Zeitlosigkeit, umgeben von Wiesen und sanften Hügeln, während die Welt ringsum in ihrem ewigen Wandel gefangen war.
Doch noch bevor ich das Kloster erreichte, blieb ich stehen. Vor mir ragte ein riesiges Kunstwerk aus Metall auf, ein massives, faszinierendes Gebilde, das verschiedene religiöse Führer darstellte. Es war ein Monument der Spiritualität, der Vielfalt und – so empfand ich es – der Sehnsucht nach Einheit. Die Gesichter, aus dem kalten Metall herausgearbeitet, schienen zeitlos, als hätten sie immer hier gestanden. Doch das war eine Illusion. Dieses Kunstwerk war jung, ein neuer Blick auf einen alten Ort.
Die Geschichten, die uns verbinden
Während ich das Kunstwerk betrachtete, fragte ich mich: Was bedeutet Glauben heute? In einer Welt, die so oft von Spaltung und Gegensätzen geprägt ist, in der Religion nicht selten als Grenze statt als Brücke gesehen wird, stand hier ein Monument, das scheinbar das Gegenteil ausdrückte.
Ich stellte mir vor, was die Mönche, die einst dieses Kloster bewohnten, über dieses Werk gedacht hätten. Über die Gesichter Buddhas, Jesu, Mohammeds, über die Darstellung spiritueller Führer verschiedenster Glaubensrichtungen. Wären sie erschüttert gewesen? Oder hätten sie in diesem Kunstwerk eine moderne Interpretation dessen gesehen, was der Glaube im Kern sein sollte: nicht Ausgrenzung, sondern Verbindung?
Das Kloster und sein Erbe
Im Kloster selbst traf ich auf Sepp Hollinger, einen Seelsorger, der mir die Geschichte dieses Ortes näherbrachte. St. Urban wurde 1194 von Mönchen der Abtei Lützel gegründet, ein Ort der Stille und der Arbeit, wie es für die Zisterzienser typisch war. Im 13. Jahrhundert begannen die Mönche hier sogar mit der Produktion kunstvoll verzierter Backsteine, die nicht nur funktional waren, sondern auch eine Form von Ausdruck und Schönheit repräsentierten.
Die Geschichte des Klosters ist auch eine Geschichte der Umbrüche. Nach Jahrhunderten der Blütezeit kam mit dem Sonderbundskrieg 1848 die Zäsur. St. Urban wurde aufgelöst, nicht aus geistlichen, sondern aus ganz pragmatischen Gründen: Die Kriegsschulden mussten beglichen werden. Was einst ein Zentrum des Glaubens und der Kultur war, wurde nun zu Geld gemacht, ein wirtschaftlicher Tauschhandel mit der Vergangenheit.
Mir kam der Gedanke: Was bleibt von einem Ort, wenn er nicht mehr das ist, wofür er einst geschaffen wurde? Sind es die Mauern allein, die ihn definieren? Oder sind es die Geschichten, die Erinnerungen, die ihn weiterleben lassen?
Im Jahr 1873 wurde das Kloster zur psychiatrischen Klinik umgewandelt, eine Funktion, die es über 150 Jahre lang behielt. Während andere alte Klöster dem Verfall anheimfielen oder in Museen verwandelt wurden, lebte St. Urban weiter – nicht mehr als Stätte des Gebets, aber als Ort, an dem Menschen Heilung suchten. Vielleicht lag genau darin die wahre Beständigkeit dieses Ortes: Nicht in seiner ursprünglichen Nutzung, sondern in seiner Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, ohne seine Seele zu verlieren.
Die Bedeutung des Kunstwerks
Als ich wieder nach draußen trat und vor dem Kunstwerk stand, dachte ich darüber nach, wie sehr sich dieser Ort gewandelt hatte. Früher war er Zentrum eines einzigen Glaubens, eines einzigen Verständnisses der Welt. Nun stand hier ein Kunstwerk, das genau das Gegenteil verkörperte – ein Bekenntnis zur Vielfalt, ein Symbol dafür, dass Religion nicht in Stein gemeißelt, sondern lebendig ist.
Die Gesichter aus Metall blickten mich an. Nicht auf die Jahrhunderte von Mönchen, Arbeitern und Patienten, sondern auf die Menschen von heute – auf mich, auf dich, auf alle, die sich fragen, was Spiritualität in einer Zeit bedeutet, in der viele sich längst von alten Glaubenssätzen entfernt haben.
Vielleicht ist es genau das, was Orte wie St. Urban brauchen. Nicht nur den Blick zurück, sondern auch einen nach vorne. Denn nichts bleibt, wie es war – aber das, was wirklich zählt, findet immer wieder neue Wege, sich auszudrücken.
Quellen:
Kleiner Führer Klosterkirche St. Urban:
Diese Broschüre wurde mir freundlicherweise von Herrn Hollinger zur Verfügung gestellt und diente mir als wertvolle Informationsquelle.
Wikipedia – Kloster St. Urban
Offizielle Website des Klosters St. Urban
Stadt Langenthal – Geschichte
Buchfreund.de – Die ehemalige Klosterkirche St. Urban
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Kommentare
Ein kleiner Text mit grosser Botschaft.
Just so, wie das Kloster St. Urban in die Landschaft gebettet ist - sanft, unaufdringlich und doch so einnehmend -, liest sich auch dieser brillante Text.
Danke, für den Denkanstoss des Perspektivenwechsels.